Freitag, 18. Oktober 2013

Rezension zu „Wo Milch und Honig fließen“ von Grace McCleen

Wo Milch und Honig fließen
Eine Geschichte über Glauben und Verzweiflung, Traurigkeit und Selbstzweifel aus Sicht eines zehnjährigen Mädchens

(sl). „Es gab nur einmal einen Tag, an dem ich dachte, dass Vater mich liebt.“ Judith ist ein zehnjähriges Mädchen, das mit seinem Vater in England lebt. Judiths Mutter starb bei ihrer Geburt, und das Mädchen gibt sich die Schuld daran und auch dafür, dass ihr Vater immer so traurig ist.

Grace McCleen erzählt in ihrem Debütroman „Wo Milch und Honig fließen“ eine Geschichte über Glauben und Verzweiflung, Traurigkeit und Selbstzweifel aus Sicht der zehnjährigen Judith. Das ist manchmal komisch, aber oft einfach nur bedrückend und von atmosphärischer Dichte.

Judith und ihr Vater leben in einem kleinen Ort in einfachen Verhältnissen. Ihr Alltag wird geprägt vom tiefen Glauben an Harmagedon, dem Untergang der Welt, bei dem Gott nur die Menschen retten werde, die an ihn glauben. Judith lebt in einer Phantasiewelt, dem „Land der Zierde“, in die sie sich zurückzieht. Doch eines Tages rückt das Land der Zierde in den Mittelpunkt des Geschehens: Judith wird in der Schule von ihrem Mitschüler Neil so geärgert und bedroht, dass sie sich wünscht, es würde schneien, damit am nächsten Schultag der Unterricht ausfällt. Sie fängt an, mit Rasierschaum und Wattebäuschchen Schnee in ihrem Land der Zierde zu bauen. Und als sie am nächsten Morgen aufwacht, hat es über Nacht so viel geschneit, dass die Schule ausfällt – und das im Oktober. Fortan ist Judith davon überzeugt, Wunder bewirken zu können und Gottes Werkzeug zu sein.

Grave McCleens Beschreibungen von Judith und ihren Gedankengängen sind eindringlich. Man selbst kann sich sicher daran erinnern, sich im Kindesalter Dinge sehnsüchtig gewünscht zu haben oder verzweifelt zu sein, wenn man von Klassenkameraden gehänselt wurde. Doch mancher Leser dürfte sich vermutlich eher an der Glaubensgemeinschaft stören, die sehr stark an die Zeugen Jehovas erinnert (benannt wird diese Glaubensgemeinschaft nie) und die mit ihren „abstrusen“ Vorstellungen von Gott und der Welt noch den Konflikt Judiths untermauern und zum tragenden Element des Romans werden.

Nachdem der Schnee geschmolzen ist und die Schule wieder beginnt, ärgert Neil weiterhin die Außenseiterin Judith. Die wiederum kann sich dem durchweg in sich gekehrten Vater nicht anvertrauen und sucht so alleine im Zwiegespräch mit Gott eine Lösung, Neil endlich dazu zu bringen, sie nicht mehr zu bedrohen oder ihr den Kopf in die Kloschüssel zu stopfen.

Nachdem in der Fabrik des Vaters ein Streik ausbricht und dieser aus seinem Glauben und Überzeugung heraus zum Streikbrecher wird, ruft das nicht nur Neil und dessen streikenden Vater auf den Plan. Judith und ihr Vater sehen sich plötzlich einem Psychoterror ausgesetzt, der in einem Brandanschlag auf das Haus der kleinen Familie gipfelt. Doch das ist noch lange nicht das Ende…

Immer, wenn in „Wo Milch und Honig fließen“ die Handlung dahin zu plätschern droht, zieht Autorin Grace McCleen die Spannung wieder an. Trotzdem fordert der Roman seinen Leser sehr. Mehrfach schwankte auch ich zwischen aus der Hand legen und wissen wollen wie es weiter geht. Der erwachsene Leser leidet mit dem kleinen Mädchen, ist fassungslos über die Gewalt, die über Judith und ihren Vater hereinbricht, und kann es gut nachvollziehen, dass Judith sich an allem die Schuld gibt. Schließlich stellt auch noch der im Glauben tief verwurzelte Vater die Zugehörigkeit zu seiner Glaubensgemeinschaft in Frage.

Im englischen Original trägt der Roman übrigens den Titel „The Land of Decoration“. Schade, dass Übersetzerin Barbara Heller diesen viel passenderen Titel nicht übernommen hat. Gelungen ist dafür die übersetzte Bezeichnung „Land der Zierde“, die auch ein guter Buchtitel gewesen wäre.

„Wo Milch und Honig fließen“ dürfte Leser mit Zugang zu Gott und Religion besonders beeindrucken, so oder so ist es aber ein Roman, der einen noch lange beschäftigt.

© Steffani Lehmann von Literaturtipp.com


Grace McCleen
Wo Milch und Honig fließen
Aus dem Englischen von Barbara Heller
Deutsche Verlags-Anstalt, München
ISBN 978-3-421-04546-1
1. Auflage 2013, 380 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, Format 20,5 x 13,5 cm.
Preis: € 19,99 (D) / € 20,60 (A) / sFr 28,50



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